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Zwei Sozialpolitiker, ein Wissenschaftler und zwei Praktikerinnen der Jugendhilfe diskutierten darüber wie sozial benachteiligte Jugendliche am besten zu fördern seien.
200 Besucher erleben emotionale Diskussion beim prominent besetzen SMMP-Forum in Münster
„Wenn Eltern ihren Kindern morgens kein Butterbrot schmieren und nicht mit ihnen aufstehen, bringt es nichts, diese Familien mit Milliarden zu fördern“, betonte der CDU-Politiker Karl Schiewerling MdB bei der Podiumsdiskussion der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel zur Situation sozial benachteiligter Jugendlicher in Deutschland auf dem Katholikentag in Münster. Und der Armutsforscher Christoph Butterwegge entgegnete: „Dann liegt das aber auch daran, dass viele Eltern schon zehn, zwölf Jahre von Hartz IV abhängig sind, psychisch krank sind und das gar nicht mehr können.“
Rund 200 Menschen folgten der Podiumsdiskussion in der Aula der Marienschule.
Vor rund 200 Besuchern in der Aula der Marienschule ging es bei diesem unbequemen Thema emotional zur Sache. Die Diskussion zeigte, wie vielschichtig und wie notwendig die Diskussion um Kinder- und Jugendarmut in Deutschland ist.
Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey, 16 Jahre lang kommunalpolitisch im sozialen Brennpunkt Berlin-Neukölln aktiv, erklärte ihrerseits, das Problem sei erkannt: „Wir investieren jetzt 3,5 Milliarden Euro in die kindliche Frühförderung, vor allem im Kita-Bereich. Gleichzeitig zwei Milliarden in die Ganztagsbetreuung von Schulen.“ Professor Dr. Butterwegge machte aber auch klar: „Das ist das Geld, das schon durch die Einführung von Hartz IV vor 14 Jahren eingespart wurde.“ Seitdem habe sich wenig in der Sozialpolitik bewegt. Gleichzeitig gerate das Thema zunehmend aus dem Bewusstsein.
„Deshalb haben wir uns entschieden, uns mit diesem Thema auf dem Katholikentag einzubringen“, hatte Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow schon bei ihrem Eingangsstatement klargestellt. Eine Einrichtung wie die gemeinsam mit den Salesainern Don Boscos getragene Manege in Berlin Marzahn zeige, wieviele Jugendliche ihre Lebensperspektive verlieren, und dass es sich lohne sie wieder einzufangen.
Schwester Margareta Kühn, die das Jugendzentrum Manege in Berlin Marzahn leitet, sieht sich selbst als leidenschaftliche Verfechterin nvon guten, begleiteten Sanktionen.
„Schatzsucher“ in Berlin-Marzahn
„Schatzsucher“ nennt Moderator Dr. Udo Marquardt deshalb Schwester Margareta Kühn, die Geschäftsführerin der Manege. Die erklärte sogleich, dass sie mit einem großen Team weiterer 50 Schatzsucher zusammenarbeite. „Wichtig ist es vor allem erst einmal, für sie da zu sein. Denn akute Not hält sich nicht an Öffnungszeiten.“ Die Manege zünde nicht jeden Tag ein pädagogisches Feuerwerk.
Natürlich dürfe man dabei auch mit Sanktionen arbeiten: „Manchmal muss man jemandem sagen: ‚Du hast keine Depression. Das ist eine angeborene Faulheit.‘“ Wichtig sei allerdings viel häufiger, junge Menschen positiv zu motivieren.
Das fehlt der BDKJ-Bundesvorsitzenden Lisi Maier: „Wenn Jugendliche und junge Erwachsene vom Jobcenter Sanktionen erfahren, dann geht das in 76 Prozent der Fälle auf Meldeversäumnisse zurück. Dabei wissen viele von ihnen gar nicht, wie man mit behördlichen Briefen umgeht. Oder sie erhalten sie gar nicht, weil sie bei dem Freud oder der Freundin wohnen.“ Der BDKJ, der die Situation von Kindern und Jugendliche in Deutschland mit eigenen Sinus-Studien erforscht hat, begrüße deshalb, dass das Arbeitsministerium diese Sanktionen jetzt lockern will.
„Leitern in die Grube stellen“
Klar wurde in der Diskussion: Junge Menschen, die ins Abseits geraten, brauchen eine personelle Begleitung. Karl Schiewerling gebraucht das Bild einer Braunkohlegrube, in die man Leitern stellen müsse, um diese Menschen aus der Grube, ihrer einzigen Lebenswirklichkeit herauszuholen. „Und wir müssen Menschen an die Leitern stellen, die ihnen dabei helfen.“
Zugleich müssten die Familien in der Lage sein, ihren Kindern die Voraussetzungen für einen Weg nach oben zu schaffen. Und in der Frage, welche Maßnahmen dort an erster Stelle stehen, geraten der Sozialpolitiker und Butterwegge aneinander.
Sozialforscher Christoph Butterwegge forderte auch vom Publikum, sich in die Situation von Menschen hineinzudenken, die seit 13 Jahren oder länger von Hartz IV leben. „Der hat psychosoziale Probleme, der hat Suchtprobleme und der soll dann morgens noch das Brot schmieren? […] Und das wir die unterstützen müssen, das verstehe ich unter christlicher Nächstenliebe.“
Gerade noch erhält der CDU-Politiker für seinen Satz Applaus, da wundert sich der Armutsforscher über diese Reaktion des Publikums und führt ihm die Situation der seit Jahren von Sozialhilfe abhängigen Eltern vor Augen. Erst müssten sich finanzielle Voraussetzungen ändern, so seine These. Denn die Einsparungen im Bereich der Sozialpolitik hätten diese Benachteiligungen forciert.
Weit liegen der Politiker und der Wissenschaftler gar nicht auseinander. Denn Karl Schiewerling hat sich für die finanzielle Förderung von Einrichtungen wie der Manege stark gemacht. Er will junge Menschen ganzheitlich fördern und nicht in die verschiedenen Sozialgesetzbücher zerlegt wissen. Dennoch macht die Argumentation der beiden Diskussionsteilnehmer andere Denkweisen deutlich.
„Ausgrenzung ist grausamer als Frieren“
Ebenso unterschiedlich ist die Definition von Armut. „Wir haben 600 000 alleinerziehende Mütter mit einer Millionen Kinder in diesem Land, die Hartz IV beziehen“, macht Butterwegge klar. Ein Viertel aller Beschäftigten arbeite inzwischen im Niedriglohnsektor. Und 75 Prozent aller erwerbstätigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen hätten befristete Arbeitsverträge. „60 Prozent der Menschen in Deutschland verdienen weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das sind 2,7 Millionen“, so der Wissenschaftler. Dabei sei das Ausgegrenzt-Sein durch fehlende Teilnahme an der Gesellschaft oft grausamer als zu hungern oder zu frieren.
Bundesministerin Franziska Giffey macht in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Faktor aufmerksam: Es seien vor allem Alleinerziehende, die in Armut geraten. Auch deshalb, weil sie in Berufen arbeiten, in denen sie viel zu schlecht verdienten: wie in der Pflege oder der Kindererziehung. Diese Zusammenhänge zeigten, wie vielfältig das Problem sei. Sie hält fest: „Wir sprechen bei sozialer Armut von Kindern und Jugendlichen nicht von einem Randthema. Wir sprechen von einem Kernthema für die Zukunft unseres Landes.“
Schwester Margareta betont zum Abschluss: „Das Miteinander ist entscheidend – in der Politik wie in der Gesellschaft. Dazu wünsche ich mir, dass wir als Christen politisch motiviert sind. Da geht in der Kirche noch was.“ Auch das hat diese engagierte Diskussion auf dem Katholikentag deutlich gemacht.